Im Deutschlandfunk lief gestern die überaus interessante Sendung „Revolution online. Das Internet und der Umbruch in der arabischen Welt“ von Andreas Noll, die sehr ausgewogen und differenziert die Rolle sozialer Netzwerke für die arabischen Revolutionen beleuchtet, zu der ich als „Social Networks, social revolution“ bereits geschrieben habe. Die Sendung gibt es hier als Audio on demand. Bemerkenswert finde ich vor allem die Analyse des Bremer Psychologieprofessors Peter Kruse. Kruse unterstellt, dass das Verhältnis der Individuen in der Masse nicht an Visualität gebunden ist und damit zunehmend räumlich prekär wird: „Das Internet kann Masse generieren, bevor Masse sichtbar wird. Normalerweise müssen sie immer ein Ereignis haben, das in irgendeiner Weise medial aufbereitet wird. Jetzt sind wir in einer Situation, wo durch die Systemeigenschaft des Internets sich Masse entwickelt, lange bevor sie sichtbar wird auf der Straße“.
Das ist ein interessanter, aber auch kein neuer Gedanke: Masse ist demnach weder an Sichtbarkeit, noch an physische Präsenz gebunden, kann aber, und das ist der fundamentale Widerspruch zu den notorischen Massenkritikern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundertsbereits (Riesman, Baudrillard, Anders, Sloterdijk und Konsorten), als politisches Subjekt auftreten. Für diese kam eine Masse, „die nur noch eine Qualität des Einzelnen darstellt“ als agierendes Geschichtssubjekt nie in Betracht. Bereits Baudrillard ging zwar bereits davon aus, dass sich die Trennung von Masse und Individuum im permanenten Zustand der Gleichzeitigkeit von Massenhaftigkeit und Individualität schließlich aufheben werde („In virtuellen Medienuniversen sind Masse und Individuum nur die elektronische Extension des jeweils anderen“). Jedoch blieb eine eine positive Bewertung von Masse, deren physische Präsenz fortwährend zugunsten des Imaginären und Virtuellen an Bedeutung verloren haben sollte, bis zu Negri und Hardts „Multitude“ ausstehend.
Obgleich bereits erkannt wurde, dass sich das Erscheiningsbild der Masse durch Medientechnologien tiefgreifend verändert, basierte die Ablehnung alles Massenhaften weiterhin auf der Struktur einer außengeleiteten Masse, die sich durch die medientechnisch ermöglichte Veränderung der Modalitäten der Kommunikation angeblich noch verstärkten sollte: so wurde der Masse nicht nur ihre physische Präsenz enzogen, sondern auch ihre politische Kraft – sie wurde nicht zum manipulierten Mob, sondern, viel schlimmer, zu einem verstummten Publikum passiver Empfänger von Programmen degradiert, die das Bedürfnis einer Massenbildung gar nicht mehr verspürten, sodass die öffentlich auftretende Masse schliesslich ebenso verschwinde, wie die Furcht vor der politischen und destruktiven Macht der Massen.
Die Ereignisse der arabischen Revolutionen haben den Massenbegriff aber zum Glück in eine weitere Krise geführt und damit die Diskussion über eine neu verteilte Macht zur Herstellung von Öffentlichkeit im Gang gebracht. Im Mittelpunkt steht dabei eine Demokratisierung der Diskurse, die vor allem auf die veränderte Kommunikationsstruktur neuer Medientechnologien zurückzuführen ist. Ihre netzartige Struktur ist für Massenbotschaften grundsätzlich ungeeignet und marginalisiert damit nicht nur dem Einfluss durch eine leitende Instanz, sondern entzieht sich ihrem Prinzip an sich. Mit dem darauf basierenden Konzept der Multitude haben Negri und Hardt eine Transformation der Diskursfigur der Masse nahegelegt, in der die Massen ihren Subjekt-Status zurückeroberen, weil sie sich nun der Manipulation durch Führer oder Programme entzieht. Man sollte aber nicht annehmen, dass imaginäre oder unsichtbare Massen (wenn das denn der richtige Begriff sein sollte) die phsyisch präsente Masse und deren Handlungsmacht auch nur annähernd ersetzen könnten. (Bild: Essam Sharaf, Creative Commons, via)